Wo klang es Waddisch?

Jeder Einheimische hat wohl eine eigene Vorstellung davon, was noch zum Werdener Land gehört und was nicht. Werden, Fischlaken und Heidhausen sind längst zusammengewachsen. Die Häuser legen sich im dichten Bogen um die Bundesstraße 224, vom Kastellplatz bis zum Kamillushaus erscheinen die drei Stadtteile als ein geschlossenes Siedlungsgebiet. Die alten Grenzen zwischen Viehauser Berg und Pastoratsberg sind längst überformt. Erst auf den Höhen zerfasern sich die Siedlungen wieder und die vorindustriellen Strukturen schimmern durch, entlang der Ausfallstraßen reihen sich die unbebauten Felder. Aus der Luft lassen sich die einzelnen Höfe in Fischlaken, auf dem Hammer Berg, im Hespertal und in Holsterhausen noch gut auseinanderhalten. Doch wie genau nehmen die Menschen ihre Umgebung wahr, was gehört noch zu Werden oder zum Werdener Land?

Prolog: Wo die Leute im Alltag wie in Werden reden

Um dem auf die Spur zu gehen, habe ich eine kleine, leider nicht repräsentative Umfrage vorgenommen, an der im März und April 2024 insgesamt 64 Personen aus der Umgebung teilnahmen. Dabei wollte ich wissen, wo ihrer Meinung nach „die Leute im Alltag so wie in Werden reden“, bis wohin der typische Klang der Alltagssprache reicht. Natürlich ist diese Fragestellung sehr abstrakt, schließlich verfügt jede Person über ihre eigene, individuelle Sprachfärbung. Insoweit zielt diese Formulierung auch auf einen Stereotyp: Wer ist die typische Werdenerin, der typische Werdener, und wie hört sich diese Person an, wenn sie spricht? Schnell war auch in einem Kommentar die Rede vom „älteren Werdener“, also dem fast mythischen aulen Waddischen, der über Generationen ortsgebunden ist.

Natürlich ist die zugrunde liegende Prämisse abstrakt und individuell höchst unterschiedlich einzuschätzen. Doch vermag sie es, ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit zu reflektieren, gerade unter denjenigen, die schon seit längerer Zeit hier ansässig sind. Da kommt es weniger auf die eigene Herkunft als auf die tatsächliche soziale Integration an. Setzt man die Ergebnisse dann noch in ein Verhältnis zu den historischen Verwaltungs- und Sprachverhältnissen, lassen sich zudem strukturelle Entwicklungen über den jeweiligen Zeitraum abbilden. Maßgeblich sind dafür u. a. die Ausdehnung der alten Reichsabtei mit ihren Siedlungsverbänden, sprachgeschichtliche Untersuchungen des 19. und 20. Jahrhunderts und die Bevölkerungsentwicklung seit der Industrialisierung mit der einhergehenden Expansion des städtischen Raums.

Natürlich sind nicht alle Werdener auch in Werden geboren und aufgewachsen. Zugezogene und besonders ihre Kinder haben mit der Zeit zur ortstypischen Sprachfärbung beigetragen, Merkmale beigetragen und übernommen. Der aus Ettenheim stammende Germanist Ernst Ochs (1888 – 1961), viele Jahre Hauptbearbeiter des Badischen Wörterbuchs, vertrat schon 1922 eine maßgebliche Ansicht: „Der eigentliche Sprachträger ist nicht der festgewurzelte Originalmensch, sondern der Gesellige mitten im Verkehr. Verkehr aber, Handel und Heiraten in die Fremde gibt es nicht nur an Industrieplätzen, sondern überall, und hat es überall immer gegeben.“ Dennoch kann wohl jede Person ein gewisses Klischee abrufen, wenn man z. B. die sprachlichen Unterschiede zwischen Hamburg, Köln, München oder Berlin benennen soll. Ähnliches lässt sich gerade auch von der näheren, vertrauten Umgebung behaupten.

14 Gebiete standen zur Auswahl

Die abgefragten Gebiete richten sich nach den Siedlungsverbänden der abteilichen Zeit (Bauerschaften bzw. jünger: Honnschaften) und der Schnittmenge dialektgeographischer Untersuchungen. Daher waren die übereinstimmend nicht zum alten Werdener Dialektgebiet gerechneten Siedlungen Dilldorf, Ickten, Roßkothen und Byfang keine Option. Es standen 14 Gebiete zur Auswahl: Heidhausen, Fischlaken, Unterbredeney (Kanonenberg), Schuir, Bredeney, Kettwiger Umstand (Pierburg), Kettwig-Stadt, Holsterhausen (In der Borbeck), Oefte, Kleinumstand (Langenhorst), Hamm (Hespertal), Rodberg (Ludscheidt) und Heisingen. Werden-Stadt stand als Referenz fest. Anhand der Umfrage wurde nun die Meinung einer zufälligen Gruppe von Menschen zu einem festen Punkt in der Zeit eingeholt, genauer noch: zu den verbreiteten Vorstellungen eines Zeitpunks.

Drei Viertel für Fischlaken und Heidhausen

Mit mindestens 75 Prozent Zustimmung wurden die mit Werden verwachsenen Stadtteile Fischlaken und Heidhausen in das Gebiet der „Werdener Umgangssprache“ gewählt. Rund 22 Prozent zählen noch Unterbredeney am anderen Ende der Ruhrbrücke hinzu, wo sich auch der Werdener Bahnhof befindet. Auch das stromaufwärts am rechten Ruhrufer gelegene Heisingen (13 Prozent), einst nordöstlicher Ausläufer des Abteigebiets, wurde mehrfach hinzugezählt. Ansonsten wird der Fluss mehrheitlich als sichtbare Grenze wahrgenommen. Auch die beiden direkt an das Kerngebiet Werden – Fischlaken – Heidhausen angrenzenden Gebiete Hamm (14 Prozent) und Holsterhausen (11 Prozent) betrachtet nur noch eine Minderheit als dazugehörig. Möglicherweise wird der Kontrast zwischen der urbanen Siedlung und dem ländlichen Raum heutzutage als zu scharf empfunden.

Bredeney wird nur von drei Prozent zum Werdener Sprachgebiet gerechnet. Hier entfaltet wohl der Bredeneyer Berg eine räumlich trennende Wirkung, zudem ist der Ort seit rund hundert Jahren ganz mit dem Essener Siedlungsgebiet (Rüttenscheid etc.) nach Norden verwachsen. Nach Süden wird nun die seit 1929 bestehende Stadtgrenze zu Velbert als Grenze wahrgenommen, die alte abteiliche Honnschaft Kleinumstand (5 Prozent) wurde seither großflächig mit der neuen Siedlung am Langenhorst überformt. Immerhin sechs Prozent rechnen allerdings die ehemalige Herrschaft Oefte hinzu, die in Untersuchungen häufig zum niederbergischen Sprachraum (Velbert, Heiligenhaus etc.) gezählt wurde. Kurioserweise wurde auch der nicht im abteilichen Kerngebiet gelegene Byfang von einer Person ausdrücklich als 15. Option hinzugefügt.

SiedlungsgebietStimmenAnteil in Prozent
Werden-Stadt64100 %
Fischlaken5078,1 %
Heidhausen4875 %
Unterbredeney (Kanonenberg)1421,9 %
Hamm (Hespertal)914,1 %
Heisingen812,5 %
Holsterhausen (In der Borbeck)710,9 %
Kettwig-Stadt46,3 %
Oefte46,3 %
Schuir46,3 %
Kleinumstand (Langenhorst)34,7 %
Bredeney23,1 %
Rodberg (Ludscheidt)11,6 %
Byfang11,6 %
Kettwiger Umstand (Pierburg)00 %

1. Was ist eigentlich Waddisch?

So stellt sich also 2024 ein nicht näher definiertes Werdener Sprachgebiet für einen kleinen Personenkreis dar, ungeachtet der sprachlichen Schicht (Dialekt, Regiolekt, Umgangssprache), auf die sich die Antworten beziehen könnten. Der grundsätzliche Fragenkomplex ist dabei noch sehr viel umfassender: 1. Was ist eigentlich Waddisch? 2. Wo wird und wurde es gesprochen? 3. Wie hat sich die örtliche Umgangssprache entwickelt? In der Dialektologie werden sowohl aktuelle sprachliche Erhebungen als auch historische Quellen genutzt, um einzelne Grenzen und ihre Entwicklung nachzuvollziehen. Häufig decken sich die so ermittelten Gebiete mit den jeweiligen historischen Territorien, genauer noch: den Kirchspielen zur Reformationszeit. Für die weiter zurückliegenden Zeiträume werden ihre Veränderungen untersucht, um Verschiebungen der sprachlichen Verhältnisse zu rekonstruieren. Aus ältester Zeit (Urkunde vom 10. November 875) ist die folgende Ausdehnung des Werdener Pfarrbezirks überliefert: Südlich der Ruhr werden Oefte, Heiligenhaus, Velbert, Flandersbach, Rützkausen (heute Wülfrath), Hamm und Rottberg als Grenzorte erwähnt, nördlich der Ruhr die Walleney (Schuir), Bredeney und Heisingen.

Damit ist ein erster Anhaltspunkt für die mögliche früheste Ausdehnung eines „Werdener“ Sprachraums gegeben, wobei sich die Dialekte des fränkisch-sächsischen Grenzraumes seinerzeit wohl noch nicht erheblich ausdifferenziert hatten. Bis ins 14. Jahrhundert bleibt eine sinnvolle Abgrenzung unmöglich, auch danach gibt es noch erhebliche Überschneidungen. Bis in die neueste Zeit weisen die Dialekte des später nicht mehr zur Abtei Werden gehörigen, im Hochmittelalter „niederbergisch“ gewordenen Landes (Heiligenhaus, Velbert, Wülfrath) große Übereinstimmungen mit dem „Waddischen“ auf. So erstreckte sich die Grenze des sächsischen Einheitsplurals auf „-et“: wi maket, git maket, se maket bis ins 14. Jahrhundert bis zur alten Werdener Pfarrbezirksgrenze. Seitdem schob sich allmählich ein neuer, hochdeutsch beeinflusster Einheitsplural auf „-en“  bis zum Bredeneyer Berg vor: wi maken, git maken, se maken. Doch gibt es noch aus der Zeit um 1870 schriftliche Belege des alten Einheitsplurals auf „-(e)t“ für Werden und Heidhausen wi kommt (wir kommen) und potentielle Übergangsformen ganz ohne Flexionsendung bruck gött (braucht ihr).

sächsischer Einheitspluralbergischer Einheitsplural
wir machenwi maktwi maken
ihr machtgit maketgit maken
sie machense maketse maken

UUerthina, Werdina, Werden

Zwar ist Werden nicht der älteste urkundlich belegte Siedlungsort im unteren Ruhrtal, dafür wohl der bedeutsamste. Zwischen der diapanbeci, dem Tiefenbach vom Bornerberg und der damals noch namenlosen Kreuzenbeck (auch Kruselbeke bzw. Mühlenbach), deren Tal heute die Velberter Straße durchquert, begründet der friesische Missionar Liudger sein Kloster. Der Ort wird 799 erstmals als UUerthina erwähnt, was seine Lage auf einem „Werth“, einer Anhöhe zwischen den zwei Bächen beschreibt. Ab dem 10. Jahrhundert schlägt sich der Lautwandel vom Frikativ <th> zum Plosiv <d> auch in der Urkundensprache nieder: Nun ist vermehrt von Werdina zu lesen. Ab dem 12. Jahrhundert werden die Vokale in Nebensilben abgeschwächt, so dass sich der Ortsname über Werdena und Werdene zu Werden wandelt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass <r> hier noch für ein gerolltes [r] steht, das mit der Zungenspitze hinter den Schneidezähnen gebildet wird.

Warden, Waaden, Wadden

Für die Umgangssprache wird für die gleiche Zeit angenommen, dass die Vokale vor Konsonanten im niederfränkischen Sprachgebiet immer stärker gedehnt wurden, so auch in der Verbindung <er>. Der Vokal <e> erhielt mit der Zeit eine offenere Qualität, die sich leichter artikulieren lässt: [eː] > [ɛː] > [æː] > [aː]. So hat sich z. B. aus Mittelniederländisch pert das heutige paard (Pferd) der niederländischen Standardsprache entwickelt. Eine vergleichbare Entwicklung kann für den Ortsnamen von Werden angenommen werden. So taucht im 16. Jahrhundert auch urkundlich vermehrt die Variante Warden auf. Das lässt darauf schließen, dass sich diese Änderung im Sprachgebrauch längst durchgesetzt hatte. Allerdings wurde das gerollte <r> zunehmend vokalisiert, so dass Warden im Ortsdialekt mehr wie Waaden klang. In einem letzten Entwicklungsschritt wurde dieser Langvokal [aː] gekürzt, so dass etwa ab 18. Jahrhundert mit der Variante Wadden [ˈvadn̩] zu rechnen ist, wie sie bis heute im Dialekt gilt.

ca. 800ca. 1000ca. 1200ca. 1400ca. 1600ca. 1800
UUerthinaWerdinaWerdenaWardenWaadenWadden

Waddisk, Waddisch?

Soll nun ausgedrückt werden, dass etwas zu Werden gehört, wird dem Ortsnamen gewöhnlich ein Suffix „-sch“ angehängt: Wadden + „-sch“ ergibt hier Waddisch. Auch dort hat sich vermutlich im Laufe des Spätmittelalters ein Lautwandel von <sk> zu <sch> vollzogen. Dabei könnte es sich um ein Vorstoßen südlicherer, möglicherweise schriftsprachlicher Formen handeln: Waddisk > Waddisch. Der genaue Zeitpunkt lässt sich aufgrund fehlender Quellen leider nicht bestimmen. Vergleichbar wäre wohl eine noch bis ins 20. Jahrhundert im Werdener Raum verbreitete Übergangsform mit inlautendem <schk>: betschken neben jüngerem betschen (bisschen). Der Erhalt von älterem <i> in Waddisch, aber nicht in Wadden, liegt in der Position des Vokals an einer Silbengrenze begründet. So viel jedenfalls in aller Tiefe wie Breite zu der wortwörtlich aufgefassten Frage 1, was eigentlich Waddisch ist.

Mehr als ein Waddisch über 2.000 Jahre

Damit ist auch gezeigt, dass sich die geschriebene wie gesprochene Sprache unserer Gegend im Lauf der Jahrhunderte deutlich gewandelt hat. Wir haben es daher in den 1.200 Jahren seit der Klostergründung nicht mit einer einzigen Werdener Sprachschicht zu tun, sondern mehreren Sprachstufen. Wie sich die Schriftsprache der Urkunden entwickelt hat, lässt sich recht gut nachvollziehen. Allerdings fehlen entsprechende Belege für die tatsächlich gesprochene Alltagssprache nahezu völlig. Erst Mitte des 19. Jahrhundert setzt zaghaft die Verschriftlichung des tatsächlichen Dialekts ein. Zahlreiche Sprachforscher, die häufig auch aus dem jeweiligen Ort selbst oder der Umgebung stammten, haben jedoch zu dieser Zeit ihren Eindruck des jüngsten Sprachwandels wiedergegeben, so dass wir heute zahlreiche lautliche Veränderungen ab dem 18. Jahrhundert rekonstruieren können. Jede Generation, die eine Sprache neu erlernt, trägt zu ihrer Veränderung bei. Dass es sich daher in der Tat über 200, wenn nicht 2.000 Jahre nicht um ein und dasselbe Waddisch handeln kann, erklärt sich damit von selbst.

2. Wo wird und wurde Waddisch gesprochen?

Nachdem wir uns den zahlreichen Facetten der ersten Frage „Was ist eigentlich Waddisch?“ widmeten, steht nun die zweite von dreien rund um den typischen Sprachklang auf dem Plan: „Wo wird und wurde es gesprochen?“ Dabei müssen wir uns, wie bereits herausgestellt, auf recht junge Quellen verlassen, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts verdichten. Dass sich die Waddischen auch selbst als solche verstanden, ist seit dem 21. November 1848 belegt. Von jenem Tag stammt ein Inserat im Werdener Dialekt, das in der Düsseldorfer Zeitung platziert wurde. Nun ist allerdings damit noch lange nicht raus, wo genau diese Variante benutzt wurde – ganz konkret, wie weit man seine Kreise von der Abtei ziehen musste, bis es anders klingt als im Innersten von Werden-Stadt.

Der älteste bekannte Text auf Waddisch: Düsseldorfer Zeitung (308) vom 21. November 1848, S. 4.

1877: Wenker und das rheinische Platt

Die erste teilweise Begrenzung des Werdener Sprachraums stammt von Georg Wenker (1852 – 1911). Er war zwar nicht der allererste Dialektforscher des deutschen Sprachraums, dafür aber derjenige, der zuerst systematisch ortsbezogene Daten erhob. In der ersten empirisch begründeten Karte der deutschen Dialektologie zum „rheinischen Platt“ (1877) zwischen Kleve und Koblenz wird das Werdener Sprachgebiet erstmals vage nach Süden begrenzt. Dabei handelt es sich um die Grenze von hochdeutsch verschobenem [k] > [ç], die Uerdinger Linie.

So lautet ich im Werdener Gebiet noch unverschoben ek, in Velbert hingegen bereits ech. Ihre Kartierung scheint sich an der alten Abteigrenze zu orientieren: Bei Kettwig verläuft sie entlang der Ruhr, schließt Oefte, Holsterhausen, Heidhausen und Kleinumstand mit ins Werdener Gebiet ein und streift nördlich von Velbert das Plätzchen. Von dort folgt sie der Röbbeck in östlicher Richtung, um kurz vor Langenberg nach Süden abzubiegen. Eine Grenzziehung nach Norden und Osten ist nicht verzeichnet, allein nach Westen wird der Stadtdialekt von Mülheim an der Ruhr bereits dem niederrheinischen Sprachraum zugeschlagen.

Zwischen Rheinland und Westfalen

Allerdings geht Wenker im dazugehörigen Werk nicht auf die spezifischen Eigenschaften des Waddischen ein. Das Werdener Gebiet wird von ihm zu den „westfälischen Mundarten“ gerechnet, die östlich einer Linie Rees – Wesel – Dinslaken – Mülheim – Remscheid verbreitet wären. Wichtigste Kennzeichen seien dort der Dentalausfall im Inlaut (finden, binden, Kinder: Westfälisch finnen, binnen, Kinner, Niederrheinisch fende, bende, Kender) und diphthongierte Vokale (Buch, Tuch, Fuß: Westfälisch Bauk, Dauk, Faut, Niederrheinisch Bok, Dok, Fot). Am Beispiel von Gummersbach weist Wenker darauf hin, dass einige Dialekte entlang der Grenze auch erheblichen Mischcharakter aufweisen und sich ohnehin eine Grenze „nicht so scharf bestimmen lässt“.

Für Werden ist damit zwar auf der Karte eine klare Zuordnung erfolgt, dem inhaltlichen Sinn zufolge wäre jedoch keine eindeutige Bestimmung möglich, wenngleich Werdener Formen nicht explizit erwähnt werden (vgl. Werden: feinen, beinen, Keiner; Bok, Dok, Fot). In der Tat – wie spätere Spracherhebungen zeigen sollten – scheidet sich der Werdener vom Mülheimer Dialekt u. a. in einem Detail: Dem Abfall von auslautendem „-n“ in der 1. Person Singular (z. B. ich gehe, ich tue, ich stehe: Werden ek go, ek do, ek sto, Mülheim ik gon, ik don, ik ston.) An welcher Stelle zwischen den Orten diese Veränderung jedoch auftritt, ist damit nicht gesagt.

NiederrheinischWaddischWestfälisch
findenfendefeinenfinnen
bindenbendebeinenbinnen
KinderKenderKeinerKinner
BuchBokBokBauk
TuchDokDokDauk
FußFotFotFaut

1879: Franz Koch und sein Waddisch

Um einen echt waddischen Jong handelt es sich bei unserem nächsten Autor. 1879 legt der Gymnasiallehrer Franz Koch seine Dissertation zu den „Lauten der Werdener Mundart“ vor. Ein erster Teil sollte es sein, als zweiter war wohl eine Grammatik geplant, die leider nie erschienen ist. Er erklärt zum ersten Mal ganz genau, was den Werdener Dialekt klanglich auszeichnet. Dabei nimmt er auch Stellung zu seiner sprachlichen Stellung zwischen den großen rheinischen und westfälischen Sprachräumen: „Auf der Grenze zwischen Franken und Sachsen entwickelte sich […] eine Mundart, welche der Lautverschiebung nach ganz auf dem Boden des Sächsischen steht, in vielen Punkten aber scharf von demselben sich scheidet.“

Zwar führte er zuvor aus, dass der hiesige Dialekt sich auf dem Boden der Abtei entwickelte, schränkt die Verbreitung des eigentlichen – nennen wir ihn „Kern-Werdener“ – Dialektes weiter ein: „Dem Begriffe ‚Werdener Mundart‘ ziehen wir aber eine noch engere Grenze, als wir sie bei Bestimmung des Territoriums der Abtei angegeben haben. Im Großen und Ganzen wird dieselbe durch folgende Linie bestimmt: von Oefte durch Holsterhausen, Heidhausen, Kleinumstand zum ‚Plätzchen‘ bei Velbert, von da durch das Hefeltal, in einem Bogen durch Hamm zur Ruhr, oberhalb des Hauses Scheppen; auf dem linken Ufer: von der ‚Nettlau‘ (Oefte gegenüber) durch Schuir (an Ickten, Roßkothen vorbei), durch Bredeney (bis zur Grenze von Rüttenscheid), die Essen-Werdener Eisenbahn entlang, bis Baldeney. (Die Baldeneyer Mundart ist sehr stark mit sächsischen Elementen gemischt.)“

Wie sprachen Oefte und Umstand?

Leider unterlässt Koch eine genauere Bestimmung, welche Teile der genannten Gebiete zum Werdener und welche zu einem benachbarten Dialekt zu zählen seien. Eine einschlägige Karte wurde dazu nicht angefertigt. An alten abteilichen Gebieten liegen ganz sicher außerhalb seiner Grenzziehung: Südlich der Ruhr die Honnschaften Hamm, Rodberg und Hinsbeck (heute Kupferdreh). Bei der Angabe „Oefte“ bleibt – wie bei den meisten anderen Lokalisierungen – offen, ob damit das gesamte Gebiet (ehem. Herrschaft Oefte) gemeint ist, ein so bezeichneter Ortspunkt (Haus Oefte) oder womöglich ein gleichnamiger Wasserlauf (Oefter Bach). Nördlich der Ruhr platziert Koch Heisingen und Baldeney sowie Kettwig, Ickten und Roßkothen außerhalb des Werdener Dialektgebietes. Für den Kettwiger Umstand hingegen bleibt eine Zuteilung fraglich: Koch bezieht sich nicht namentlich darauf und lässt offen, wo die Grenze auf dem weitläufigen Pierburger Saum zu ziehen wäre. Ein Indiz liefert nur Kochs Hinweis, dass der vom Gebiet südlich der Ruhr leicht abweichende Dialekt von Schuir und Bredeney „auf der Wasserscheide nach Essen hin“ verbreitet war.

Während Wenker seine einzige eindeutige Grenzziehung, und zwar die nach Süden, anhand lautlicher Merkmale definierte, verzichtete Koch darauf, die Gegensätze zwischen dem Werdener Sprachgebiet und seinen Nachbarn darzustellen. Allerdings legte Koch in seiner Dissertation ausführlich dar, welche Laute im hiesigen Dialekt zu erwarten seien. Anders als in den benachbarten Gebieten nach Norden (Essen) und Süden (Velbert) blieben zahlreiche lange Vokale hier erhalten und wurden nicht gebrochen. Dabei geschah das nicht plötzlich, wenn man über die von ihm beschriebene Grenzlinie trat, sei es am Plätzchen oder am Bredeneyer Berg.

Allmähliche Unterschiede von Ort zu Ort

Von Ort zu Ort, von Hof zu Hof veränderte sich der Sprachklang immer ein wenig mehr. Zwischen einem Werdener twee und einem Mülheimer twia war in Kettwig beispielsweise die Ausgleichsform twea (zwei) anzutreffen. Je nach eigener Familiengeschichte verfügte letztlich jede Person über eigene Sprachcharakteristika (Idiolekt), wie es noch heute der Fall in jeder Sprache ist. Auf vielen Höfen im Werdener Land wechselten ab dem 19. Jahrhundert zudem häufig die Pächter, so dass die Weitergabe des älteren Ortsdialekts unterbrochen wurde. Als Koch seine Aussagen über „die Werdener Mundart“ traf, war es seit zwei, drei Generationen schon zu einem erheblichen sprachlichen Ausgleich gekommen. Nur noch die ältesten, ortsgebundenen Personen beherrschten den typischen Dialekt einer Honnschaft oder eines Hofes. Damit ist es wohl auch zu begründen, weshalb das von Koch angegebene Gebiet zwischen Bredeney und Kleinumstand (Plätzchen), Schuir und dem Hespertal nicht so recht mit alten Siedlungsgebieten korrespondiert – dafür waren seine Beobachtungen von 1879 bereits zu jung.

Gewisse lautlichen Eigenschaften aus seiner heimatlichen Stadt Werden scheint Koch auch auf das gesamte Gebiet zu übertragen: So sei an vielen Stellen das [n] weggefallen, besonders am Ende von Wörtern: also Ouge statt Ougen (Augen) und feine statt feinen (finden). Gleiches beschrieb sein Zeitgenosse Emil Maurmann für Mülheim an der Ruhr (1889), jedoch mit einer klaren Einschränkung: „Doch dies gilt nur für die Stadtmundart; auf dem Lande bleibt das n erhalten.“ Wie die Quellen seit 1848 belegen, ist gleiches auch für das Werdener Land anzunehmen. Der Abfall von auslautendem [n] scheint sich im Ruhrtal insgesamt in solchen Gebieten vollzogen zu haben, die wenigstens zeitweise von der Reformation erfasst wurden. Darunter sind auch die Städte Mülheim und Werden zu zählen, letztere war bis zur Säkularisation mindestens konfessionell gemischt. Jede Kirchengemeinde, das sahen wir schon im Mittelalter, verfügte über ihren eigenen Dialekt.

1915: Werden und Wenkers Erben

Nach Koch sollte sich erst 30 Jahre später eine neue Generation von Sprachforschern mit dem Werdener Dialekt beschäftigen. Bis in die 1920er-Jahre wurden die einzelnen Fragen des Deutschen Sprachatlas farbig kartiert (mehr dazu im REDE-SprachGIS des Forschungszentrums Deutscher Sprachatlas). „Wenkers Erben“ untersuchen dann die Gebiete zwischen den daraus gewonnenen Grenzlinien: 1915 erschienen drei große Arbeiten über die Sprachlandschaft zwischen Kleve, Krefeld und Kürten, einer im Oberbergischen gelegenen Gemeinde. Otto Lobbes legte die „Nordbergische Dialektgeographie“ vor, in der er sich eingehend mit den sprachlichen Verhältnissen zwischen Uerdinger ek-ech-Linie und Benrather maken-machen-Linie beschäftigte.

Dabei wird bei ihm eines der größten Probleme deutlich, mit denen wir es bei der Bestimmung des Werdener Sprachraums zu tun haben: Außer bei Koch (1879) wird die alte Reichsabtei meist nur am Rande einer größeren Untersuchung behandelt. Wie einst bei Wenker (1877) begrenzt Lobbes das Waddische nicht nach Norden und betrachtet dessen inneren Verhältnisse gar nicht erst näher. Er setzt die Ausdehnung des Werdener Dialekts mit dem von Kötzschke 1904 (Beiträge zur Geschichte des Stiftes Werden, Band 10) beschriebenen Gerichtsbezirk gleich, der seit dem 14. Jahrhundert dem Abteigebiet entsprach. Allerdings bezieht sich Kötzschke ausdrücklich auf die Organisation („Verfassung“) von Kloster und Stadt und berücksichtigt kaum die Siedlungs- und Kirchengeschichte der Bauer- bzw. Honnschaften. Daher erwägt Lobbes eine sprachliche Variation innerhalb des alten Abteigebiets von vornherein nicht, mit Ausnahme von Kettwig – seit dem Mittelalter ein eigenes Kirchspiel – und der Herrschaft Oefte als strittigem Gebiet zwischen Werden und Berg. So ziehen die Laut- und Wortgrenzen bei ihm nicht kreuz und quer durch die Werdener Lande, sondern fein säuberlich am äußeren Rand entlang.

Ich, wir und der liebe Jott

Die von Lobbes für das Werdener Gebiet gemachten Angaben konkretisieren dabei erstmals seit Wenker (1877) die Grenzverläufe in einem spezifischen Aufsatz. Bestens etabliert als eine der bekanntesten Lautgrenzen war etwa die bereits erwähnte Uerdinger Linie. Nach Lobbes, der sich auf die Angaben des Deutschen Sprachatlas stützt, verläuft in unserer Gegend von Westen kommend ab Mintard entlang der Ruhr, an Kettwig und Oefte vorbei bis Scheven, dann nach Süden zum Timpen, in östlicher Richtung entlang des Oefter Bachs bis zum Plätzchen, zwischen Rodberg und Rottberg nach Nordosten, um dann vor dem Vosnacken steil gen Süden abzufallen. Nördlich dieser Linie bleibt velarer Plosiv [k] unverschoben, südlich davon steht dafür im Auslaut bereits <ch>: Daher heißt sie auch ekech-Linie (ich).

Entlang dieser Linie scheiden sich auch weitere Personalpronomen, so für die 1. Person Plural (wir) – nördlich wi (Mülheim wei), südlich wir – und jene der 1. und 2. Person Singular (mir/mich, dir/dich). Im gesamten Gebiet sind Dativ (Wem?) und Akkusativ (Wen?) zusammengefallen. Nördlich der Uerdinger Linie lautet es mi und di (Mülheim mei, dei), südlich davon mech und dech. Auch das rheinische [j] im Anlaut ergänzt diese Grenzziehung. Ist es bis ins Bergische von Heiligenhaus und Velbert verbreitet, so hat sich nördlich davon der velare Reibelaut [x] erhalten, das sogenannte „Kuchen-ch“: So ist in Werden noch immer alles chott chechangen statt jot jejangen (gut gegangen).

MülheimWerdenVelbert
wirweiwiwir
mir, michmeimimech
dir, dichdei, schedidech

Ein E für ein I vormachen

Nach Süden wie nach Westen hebt sich Werden mit seinen Vokalen ab. Lobbes nennt für das gesamte Abteigebiet mit Kettwig, Ickten und Roßkothen langes [eː] Speegel, Breew (Spiegel, Brief), [oː] Koken, Broer (Kuchen, Bruder) und [øː] möd, söken (müde, suchen). Mülheim hat dafür [iː] Spiegel, Brief, [uː] Kuken, Bruar und [yː] müd, süke. Vor einigen Konsonanten und im Auslaut weisen Mülheim – und auch Kettwig – zudem gebrochene Vokale auf: [ɪɐ̯] Tiawen, Schnia (Zehen, Schnee), [ʊɐ̯] duad, gruat (groß) und [yɐ̯] büas (böse). Das [n] am Wortende fällt beim Werdener Imperativ (Befehlsform) weg: sto! go! (steh!, geh!) mit langem Vokal, in Mülheim bleibt es erhalten: ston! gon!, in Velbert mit kurzem Vokal: stonn! gonn!

MülheimKettwigWerden
Spiegel, BriefSpiegel, BriefSpeegel, BreewSpeegel, Breew
Kuchen, BruderKuken, BruarKoken, BroerKoken, Broer
müde, suchenmüd, sükemöd, sökenmöd, söken
Zehen, SchneeTiawen, SchniaTiawen, SchniaTeewen, Schnee
tot, großduad, gruatduad, gruatdod, grot
bösebüasbüasbös
steh! geh!ston! gon!ston! gon!sto! go!

Rheinische Eigenheiten in Kettwig

Neben den Vokalen scheiden auch einige lexikalische Eigenheiten den Dialekt von Kettwig und Umstand von dem des übrigen Werdener Landes. So heißt es hier schon mitteldeutsch henger statt niederdeutsch achter, wie es im Osten bis nach Dilldorf lautet. Ebenso wurde das Kettwechsche bereits von der rheinischen Gutturalisierung erfasst: Hier heißt es Hongk (Hund) und Hangk (Hand) statt Werdener Hound und Haund. Südlich der Uerdinger Linie schließt sich das Velberter Hongd-Gebiet an, das einen phonetischen Kompromiss bzw. Ausgleich zwischen den beiden Varianten darstellt.

Ähnlich dazu verhält sich die im Raum Heiligenhaus – Kettwig verbreitete Form jönt (ihr) für die 2. Person Plural neben Werdener und Velberter gött. Lobbes sieht darin eine Analogie zum korrespondierenden Personalpronomen Dativ/Akkusativ önk (euch), dessen Auslaut eingewirkt haben könnte, und zum Pluralmarker der konjugierten Verben [nt] in diesem Gebiet, z. B. in hant (habt) und sind.

KettwigWerden
hinterhengerachter
Hund, HandHongk, HangkHound, Haund
ihrgöntgött

Gebrochen wie die Bergischen

Vor auslautendem Dental [t] vokalisieren die bergischen Dialekte den Reibelaut [x]. Wo es in Werden Wecht, Schmacht, Dochter (Mädchen, Hunger, Tochter) heißt, stehen in Velbert und Heiligenhaus sogenannte Diphthonge (Doppelvokale): Weit, Schmeit, Dauter. Ähnlich verhält es sich mit nördlichem fief und südlichem fouf (fünf). Im Gegensatz dazu zeigt Werden – ohne Kettwig – auch vokalisierte Formen der Infinitive legen und sagen: leien und seien. Mülheim und Kettwig bewahren hingegen die velaren Konsonanten im Inlaut: leggen und seggen. Das Bergische südlich der Uerdinger Linie weist bereits mitteldeutsches legen und sagen mit langem Vokal auf. Nach Norden und Osten hat Lobbes nicht mehr so genau hingeschaut, schließlich lag sein Schwerpunkt im Niederbergischen, dem Gebiet zwischen Ruhr und Wupper. Er stellt noch die bergisch gebrochenen [ɛɪ̯] Fleisch, Deil (Fleisch, Teil), [ɔʊ̯] Boum, koupen (Baum, kaufen) und [aʊ̯] ault (alt) heraus, die auch im Werdener Land bis Kupferdreh gelten, anders als schon in Byfang, das hier ungebrochene Vokale kennt: [eː] Fleesch, Deel, [oː] Bom, kopen, [ɔ] oll. Doch verlaufen diese Lautgrenzen, wie aus anderen Untersuchungen hervorgeht, nicht ganz eindeutig: Manche der Werdener Formen reichen nach Norden bis tief ins alte Essener Stiftsgebiet hinein.

VelbertWerdenByfang
MädchenWeitWechtDeerne
HungerSchmeitSchmachtSchmach
TochterDauterDochterDochter
fünffouffieffief
Fleisch, TeilFleisch, DeilFleisch, DeilFleesch, Deel
Baum, kaufenBoum, koupenBoum, koupenBom, kopen
altaultaultoll

3. Wie hat sich die örtliche Umgangssprache entwickelt?

Heute gehen wir von der zweiten Frage – Wo wird und wurde Waddisch gesprochen? – allmählich zur dritten und letzten Frage über: Wie hat sich die örtliche Umgangssprache entwickelt? Über 20 Jahre nach Lobbes‘ „Nordbergische Dialektgeographe“ (1915) schloss sich erstmals eine großräumliche Untersuchung nach Norden an. Der gebürtige Mülheimer Helmut Hellberg legte 1936 umfangreiche „Studien zur Dialektgeographie im Ruhrgebiet“ vor, die sich auch mit den sprachlichen Verhältnissen rund um Werden beschäftigten. Dabei wird erstmals auch eine konkrete nördliche Grenze des Werdener Sprachraums gezogen: Allerdings hält diese keine Überraschungen parat, da sie erneut die alte abteiliche Territorialgrenze mit der Sprachgrenze gleichsetzt.

Belegte Angaben verschlimmbessert

So genau es Hellberg auch mit den geschichtlichen Verhältnissen nehmen will, so zweifelhaft ist doch die Qualität seiner Recherche und der beigelegten Karte. So ließ er verlässliche Arbeiten, z. B. zur Phonologie des Werdener Dialekts komplett (Koch 1879) und zur Sprachgeschichte angrenzender Dialekte (v. a. Maurmann 1889, 1898) weitgehend außer Acht. Das geht so weit, dass Hellberg mit dem Deutschen Sprachatlas übereinstimmende Angaben von Lobbes (1915) regelrecht verschlimmbessert: Lobbes gibt etwa zutreffend Koken (Kuchen) und don (tun) für Werden Stadt und Land an, Hellberg meint hier stattdessen Mülheimer Kuken und dun anzugeben.

Obwohl sich Hellberg auf die territoriale wie sprachliche Einheit des Werdener Abteigebiets beruft, ist Ickten plötzlich jenseits der Grenze in der Herrschaft Broich kartiert. Auch sollen Oefte und Tüschen nun vollständig im Werdener Gebiet gelegen sein. Er gliedert das Werdener Gebiet in fünf Dialekträume: Vier nördlich der Ruhr (1. Kettwig; 2. Umstand mit Roßkothen und Schuir, 3. Bredeney mit Unterbredeney, 4. Heisingen) und eines südlich der Ruhr (5. Werden mit Oefte, Tüschen, Holsterhausen, Heidhausen, Kleinumstand, Hamm, Fischlaken und Kupferdreh).

Methodische Schwächen, analytische Stärken

Generalisierte Lobbes (1915) noch halbwegs nachvollziehbar nach den Kirchspielen, so verwundert die Kleinräumigkeit nördlich der Ruhr entgegen der groben Zusammenlegung des gesamten Werdener Landes südlich der Ruhr. Da beruft er sich schon auf seine gründlichen Studien der Wenkerbögen und fühlt sich berufen, Heisingen – durchaus begründet – als gesondertes Gebiet auszuweisen, um dann Kupferdreh mit Oefte in einen Topf zu schmeißen. Dennoch muss man Hellberg als großes Verdienst zugutehalten, dass er sich überhaupt an eine kleinräumige Gliederung gewagt hat. Zudem beschreibt er auch soziolinguistische Aspekte, die vor ihm entweder vernachlässigt oder noch gar nicht geläufig waren: Konfession, Prestige und Sprachgebrauch.

So stellt Hellberg für die Grenze zwischen den bergischen Herrschaften (überwiegend protestantisch) und der Abtei Werden (überwiegend katholisch) einen festen konfessionellen Gegensatz seit dem 17. Jahrhundert heraus. Leider erschweren die fehlerhaften Angaben für das Werdener Gebiet eine konkrete Zuordnung seiner Angaben. Hätte Hellberg hier die Mülheimer Verhältnisse ausdrücklich nur auf Werden-Stadt übertragen, hätte man ihm teilweise Recht geben und seine Argumentation sogar stützen können: Schließlich führte die Reformation langfristig zur Etablierung einer stabilen evangelischen Bevölkerungshälfte, die erst nach Aufhebung der Abtei durch katholische Zuwanderung anteilig abnahm. Insgesamt verfügte Werden-Stadt so über erhebliche Binnenvariation: Vereinfacht ausgedrückt: ein Dialekt je Nachbarschaft und Konfession.

Mehr Regiolekt statt Dialekt

Allerdings hatte sich die sprachliche Schichtung in den 1930er-Jahren schon merklich verschoben. Aus der Dissertation von Hildegard Himmelreich (1939) geht hervor, dass nur in höchstens zwei Prozent der Haushalte des Essener Industriegebiets noch Platt mit den Kindern gesprochen wurde. In Werden Stadt und Land waren es hingegen noch ganze 25 Prozent. Genauere Zahlen liegen leider nicht mehr vor: Die über 5.000 Fragebögen einer diesbezüglichen Erhebung müssen kriegsbedingt als verloren gelten. Aufgrund der hohen sozialen Durchmischung – besonders in der Emscher- und Hellwegzone – hat sich längst eine am Standarddeutschen orientierte, regionale Umgangssprache etabliert.

Hellberg beschreibt die sprachlichen Verhältnisse in seinem Untersuchungsgebiet wie folgt: „Die letzten Träger der Mundart sind Bauern und vor allem Köttersleute. Dies Bauerntum aber, das sich am Rande der Industriesiedlungen zu erhalten verstand, sucht sich der städtischen Bildung anzugleichen, lehnt die ihm eigene Mundart innerlich als unschön ab. Wenn daher auch die ältere Generation noch Platt spricht, so drückt sich der Wille nach höherer Bildung in ihren Kindern aus, die zum Hochdeutschsprechen angehalten wurden.“ Gerade im Industriegebiet sei es stets noch die um 1900 geborene Generation, die „Träger der Mundart“ seien.

Nur die Ältesten sprachen noch Platt

Für Werden deckt sich das mit den späteren Beobachtungen von Peter Wiesinger (1977): „In Werden selbst ist es nach meinen Beobachtungen nur mehr die älteste Generation […] der etwa zwischen 1890 und dem ersten Weltkrieg Geborenen. Sozial gesehen handelt es sich dabei um die einstige Unterschicht der ehemaligen Tuchweber, der kleinen Handwerker, der Ruhrschiffer, der Fischer und der Gärtner.“ Hier darf man jedoch nicht die Auswirkungen der kurz zuvor erfolgten Stadtsanierung außer Acht lassen, die zahlreiche Teile der eingesessenen Bevölkerung aus Werden verdrängt hat.

Peter Wiesinger (1938 – 2023), österreichischer Germanist und langjähriger Professor an der Universität Wien, ist derjenige Sprachforscher, der sich zuletzt intensiv mit dem Grenzgebiet zwischen Ruhr und Wupper auseinandersetzte. Für einen Aufsatz aus dem Jahre 1975 trug er zunächst akribisch die gesamte bisherige Literatur zusammen, die sich mit dem bergischen Sprachraum befasste: ganze 54 Titel für die Jahre 1843 bis 1970. Zusammen mit den 1886/87 erhobenen Wenkerbögen lag ihm somit eine solide Grundlage vor, die den Sprachstand über fast ein Jahrhundert abbildet. Zudem nahm er auch vor Ort eigene Untersuchungen vor, um Zweifelsfällen nachzuspüren.

Werden als sprachlicher Zweifelsfall

Einen solchen Zweifelsfall entdeckte er etwa in Werden: Die bereits vorgestellten Arbeiten von Koch (1879), Hellberg (1936) und Erich Mengel, der 1967 seine „Bergische Sprachgeschichte“ vorlegte, widersprachen sich in ihren Angaben. Mengel gibt für den Werdener Raum allerdings abwegige Laute an – daher erübrigt es sich an dieser Stelle, weiter auf seine Arbeit einzugehen. Um diese babylonische Sprachverwirrung aufzulösen, führte Peter Wiesinger im August 1977 eigene Aufnahmen durch, mit denen er sich auch einen Überblick über die sprachliche Situation in Werden verschaffte. Wie seine damaligen Kontaktpersonen redeten, stimmte schließlich mit den Daten des Werdeners Koch und des Deutschen Sprachatlas überein.

Wechsel der Sprachschicht: Kuchen statt Koken

Hatten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in 100 Jahren zwar enorm verändert, blieb der Sprachklang doch der gleiche, wenn in Werden jemand Waddisch sprach. Aber die meisten Menschen – viele waren zugezogen – nutzten das hiesige Platt inzwischen nicht mehr im Alltag: „So vollzog sich hier aufs Ganze gesehen kein Dialektwandel, sondern auf breitestem Raum ein Wechsel der Sprachschicht.“ Man orientierte sich am Standard der Schrift und des Rundfunks, nur manche Regionalismen in Wortschatz und Akzent setzten sich langfristig durch. Auch unter den Waddisch-Sprechern hatte sich manches schriftsprachliche Wort durchgesetzt, etwa Kuchen statt Koken, Mittwoch statt Gounsdach und Samstag statt Sotersdach. Dialekt war zwar noch deutlich mehr als nur wat un dat, aber schon hörbar weniger als zur Zeit der letzten Untersuchung, den 1930er-Jahren.

Als Wiesinger 1975 seine Arbeit vorlegte, hatten sich in der Dialektologie bereits mehrere Isoglossen, Grenzen unterschiedlicher sprachlicher Merkmale, fest etabliert. Jede einzelne wird dabei von weiteren Unterscheidungsmerkmalen begleitet (Isoglossenbündel), unter denen die älteste bekannte üblicherweise die prominenteste ist. So wurde der von ihm untersuchte „ripuarisch-niederfränkisch-westfälische Grenzbereich“ durch die westfälische Einheitsplurallinie (makt > maken: u. a. Rüttenscheid – Byfang), die Uerdinger Linie (ek > ech: Kettwig – Langenberg), die bergische Einheitsplurallinie (maken > maken, makt: Mülheim – Wülfrath) und die Benrather Linie (maken > machen: Hilden – Wermelskirchen) markiert. 

Das Waddische als bergisches Randgebiet

An diesem Ansatz kritisierte Wiesinger, dass die Beschränkung auf ein einzelnes Merkmal willkürlich erfolge und zudem den übrigen Teil des sprachlichen Systems außer Acht lasse. Für den bergischen Sprachraum versuchte er, die Entwicklung der Langvokale und Diphthonge (Doppelvokale) zu rekonstruieren und somit die „diachronisch-genetischen“ Zusammenhänge sprachräumlich abzubilden. Dabei stellt Wiesinger für Werden fest, dass hier – wie im übrigen ripuarisch geprägten Bergischen – im frühen Mittelalter die Spaltung von germanisch /ai/ zu ahd. /ē:/ – /ö:/ – /o:/ (z. B. Seeleblödhoch) und germ. /au/ zu ahd. /ei/, /e.i/ – /öü/, /ö.u/ – /ou/, /o.u/ (z. B. Deil Teil – döüpen taufen  – ouk auch, Ouch Auge) erfolgt sei. Im benachbarten Altsächsischen seien /ai/ und /au/ hingegen zu einer einzigen Reihe /ē/ – /ö/ – /o/ mit Kürze zusammengefallen, die in den westfälischen Dialekten gilt.

Zur Datierung dieser Entwicklung lässt Wiesinger allerdings die Ausführungen von Emil Maurmann (1889, 1898) außer Acht, der eine Längung und spätere Brechung von /ē/, /i/ – /ö/ – /o/ (Kind > Ki.ind > Keinddöppen > döpen > döüpenock > ok > ouk) im benachbarten Mülheim erst auf das 19. Jahrhundert datiert und als Interferenz aus der deutschen Standardsprache charakterisiert. Dieser Prozess lässt sich für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam für Werden nachvollziehen, etwa anhand von Belegen aus der Werdener Zeitung. Weniger strittig ist, die rheinische Akzentuierung (Minimalpaar schti:f steif ./. schti:.if Steife = Wäschestärke) für Werden anzunehmen, wenngleich die e-Apokope (Wegfall des auslautenden <e>) keinesfalls konsequent erfolgt ist: Es steht Stiewe neben Stiew.

Wurzeln „schwierig zu beurteilen“

Aufgrund der erhaltenen Langvokale (twia < twee), dem Fehlen gutturalisierter Formen (Hongk < Hound), nicht-vokalisierter inlautender Reibelaute (reit < recht) und einer eigenen Diphthongreihe vor /ld/, /lt/, /mb/, /mp/ (Gold > Gould) klassifiziert Wiesinger den Werdener Raum im bergischen Sprachverband als Randgebiet, das einen „höchst konservativen Zustand“ mit „ältesten bergischen Eigenheiten“ bewahrt habe. Was die Wurzeln unseres Dialekts anbelangt, so hält Wiesinger diese für „schwierig zu beurteilen“. Eine mögliche westfälische Grundlage müsse „wegen der mangelnden sprachhistorischen Erforschung des Westfälischen […] offen bleiben“, während die spätere Vokalentwicklung einen niederrheinischen Zusammenhang nahelege. Gesichert sei jedoch auch hierzulande die Abhängigkeit vom westfälischen Formensystem (u. a. Personalpronomen, Einheitsplural), die „deutlich hervortritt“.

Auf Grundlage des Vokalismus definierte er folglich einen bergischen Dialektraum zwischen Duisburg und Wermelskirchen, der ein Übergangsgebiet zwischen dem nördlichen Niederrheinischen (Niederfränkischen) und dem südlichen Ripuarischen darstelle. Werden bildet dabei neben Mülheim an der Ruhr einen der beiden nördlichen randbergischen Dialekträume an der Grenze zum Westfälischen.

Waddisch so rheinisch wie Kölsch?

Eine strukturalistisch begründete Kritik an seiner Methode stammt von Wiesinger selbst, und zwar aus einem Aufsatz von 1983 (Überlegungen zu einer Typologie des Dialekts): Die Untersuchung verschiedener einzelner Merkmale gehe zu Lasten der Vergleichbarkeit und missachte die Gesamtheit des übrigen sprachlichen Systems. „Vom heutigen Stand der Linguistik aus erachte ich dabei den ganzheitlichen und sprachintern verfahrenden Strukturalismus am geeignetsten.“ Möglichst viele Variablen sollten also als Grundlage dienen, nicht nur einige wenige. So hat Wiesinger in seiner eigenen Arbeit von 1975 zwar die vokalischen Phonemsysteme des Bergischen umfassend dargestellt, aber auch eben nur das. Auf dieser Grundlage wurde der bergische Sprachraum – und damit auch Werden – seither in zahlreichen Kartenwerken dem Südniederfränkischen (niederfränkisch-ripuarisches Übergangsgebiet) oder dem Ripuarischen (u. a. Kölsch) zugeschlagen. Weitere Untersuchungen dazu hat es in der Folge vorerst nicht gegeben.

Bergisch-märkischer Dialektverband

Jan Goossens (* 1930) postuliert 1996 in seinem Beitrag für den Geographisch-landeskundlichen Atlas von Westfalen (Formengeographie. Das Personalpronomen ‚ihr‘.) dann einen konträren Standpunkt, der auf Gemeinsamkeiten mit dem dritten benachbarten Sprachraum beruht: „Auf jeden Fall bilden das Märkisch-Sauerländische auf westfälischer und das Bergische auf rheinischer Seite zusammen einen Dialektraum, der einerseits sehr differenziert ist, und in dem sich andererseits zahlreiche Relikte erhalten haben.“ Zudem verweist Goossens auf die Bedeutung der Dualgrenze (Personalpronomen 2. Person Plural von altsächsisch git, ink) als älteste westfälische Sprachgrenze nach Westen. Das Waddische weist bis heute dafür die Formen gött, önk auf, Ratingen zum Vergleich bereits ripuarisches ihr, öch.

Nachdem wir uns mit den drei lokal relevanten Fragen auseinandergesetzt haben, was, wo und wie das Waddische war und ist, bliebe zum krönenden Abschluss noch ein Auftritt unseres Dialekts auf der großen Bühne: Zu welchem Sprachgebiet zählt nun das Werdener Platt? Bislang wurde es an dieser Stelle tunlichst vermieden, ein solches konkret zu benennen. Dass sich das Werdener Gebiet in einer vielschichtigen Grenzlage befindet, ging aus den bisherigen Ausführungen bereits hervor. Doch welcher sprachliche Anteil überwiegt im Waddischen, der eine eindeutige Zuordnung ermöglicht? Viele begnügen sich mit der Annahme, es sei ja Platt, oft in einem Atemzug mit Plattdeutsch oder Niederdeutsch genannt, und damit klar gekennzeichnet. Doch nennen auch viele Saarländer ihren Dialekt Platt, was mit dem Hamburger Zungenschlag einer Heidi Kabel wohl kaum verwechselt werden kann. 

Niederländisch, Niederdeutsch, Hochdeutsch?

Unser Gebiet befindet sich also zwischen den dialektalen Großlandschaften des Niederrheins (Niederfränkisch), des zentralen Rheinlands (Mitteldeutsch: Ripuarisch) und Westfalens (Niederdeutsch: Westfälisch). Für Werden gestaltet sich die Frage nach der sprachräumlichen Zugehörigkeit dabei als unübersichtlich. Das verwundert auch nicht weiter, da jeder Einteilung eine unterschiedliche Auswahl sprachlicher Merkmale zugrunde lag. Und da das Waddische mit den angrenzenden Dialekten ebenso verschiedene Eigenschaften teilt, fielen die Ergebnisse immer etwas anders aus. Kostprobe gefällig? Wenker (1877): Westfälisch, Koch (1879): Fränkisch-Sächsisch, Lobbes (1915): Niederrheinisch, Frings (1916): Ripuarisch-Niederfränkisch, Wrede (1937): Ripuarisch-Westfälisch, Wiesinger (1975): Randbergisch (Ripuarisch-Niederfränkisch mit westfälischen Anteilen). Werden wird also grundsätzlich im Spannungsfeld 1. westfälischer, 2. niederfränkischer und 3. ripuarischer Dialekte verortet. Je nach Klassifikation gehört 1. zum Niederdeutschen, 2. zum Niederländischen, Niederdeutschen oder Hochdeutschen und 3. zum Hochdeutschen.

Anhand der ältesten Ortsnamen (fränkisch „-(ing)hofen“, sächsisch „-(ing)hausen“) verweist noch Wiesinger in den 1970er-Jahren auf die fränkisch-sächsische Bevölkerungsmischung, die für die früheste Besiedlungszeit des 7. Jahrhunderts angenommen wird. Doch kollidiert eine Klassifikation anhand mutmaßlicher Stammesverbände des frühen Mittelalters mit unsicheren archäologischen Befunden im rheinisch-westfälischen Raum. Oft wurden wechselnde Heerverbände mit eindeutigen Stämmen gleichgesetzt. Südlich von Münster konnte man eine Anwesenheit von „Sachsen“ bislang nicht sicher nachweisen. Daher wird mindestens der südliche Teil Westfalen nach den Indizien als originär fränkischer Siedlungsraum gehandelt.

Eine neue Auswertung alter Sprachdaten

Bis in die vergangene Dekade fehlte es an einem Versuch, sämtliche deutschen Dialekte anhand vergleichbarer Daten zu klassifizieren. Bisher setzten sich in der großräumigen Betrachtung die traditionellen Grenzlinien durch, die sich meist nur auf ein einzelnes sprachliches Merkmal beziehen. Doch mit „Strukturen im Sprachraum“ legte Alfred Lameli 2013 eine computergestützte Auswertung von 66 phonologischen und morphologischen Variablen der Wenkerbögen vor, die verblüffende neue Erkenntnisse hervorbrachte. Die klassische Dreiteilung der dialektalen Großräume in ein niederdeutsches, ein mitteldeutsches und ein hochdeutsches Gebiet wurde um das „Westdeutsche“ ergänzt, in dem das Südniederfränkische, Ripuarische und Moselfränkische zusammengefasst sind. Die ans Niederländische anschließende „niederfränkische Übergangslandschaft“ am unteren Niederrhein wird gleichermaßen zum Nieder- wie Westdeutschen gerechnet. In der numerischen Klassifikation wird jedoch der niederdeutsche Anteil stärker gewichtet, so dass dieses Bündel als „2a“ (2 für Niederdeutsch) bezeichnet wird.

Lameli hat für seine Untersuchung einzelne Ortspunkte definiert, die sich nach den kommunalen Verwaltungsgrenzen richten. Damit bilden kreisfreie Städte und Kreise die kleinste räumliche Einheit: Ganz Essen bildet einen Ortspunkt. Wenn Essen daher nun innerhalb des südlichen Niederdeutschen (2c) dem Westfälischen zugerechnet wird, ist damit über eine mögliche Binnengliederung des Essener Stadtgebietes nichts gesagt. Die Daten wurden nicht für die sublokale Ebene (Stadtteile) aufgeschlüsselt. Das linguistische Standardwerk „Deutsch: Sprache und Raum“ (2019) greift die Erkenntnisse Lamelis auf und beschreibt in den Kapiteln zum „Westdeutschen“ (Südniederfränkisch bzw. Südrheinmaasländisch, Ripuarisch, Moselfränkisch) und „Westniederdeutschen“ (Nordniederdeutsch, Ostfälisch, Westfälisch, Niederfränkisch bzw. Nordrheinmaasländisch) die sprachlichen Merkmale der einzelnen Sprachräume detailliert. Aus diesen Angaben lassen sich auch Rückschlüsse ziehen, welche dieser Merkmale auf das Werdener Gebiet zutreffen.

Unterschiede nach Norden und Süden

Nach Norden grenzt die Uerdinger Linie (ek > ech) das Westdeutsche vom Westniederdeutschen ab. Zwar wird diese Sprachgrenze als „phonologisch unbedeutend“ bezeichnet, doch bildet sie ein Linienbündel mit der in der Nähe verlaufenden nördlichen Tonakzentgrenze (Regel I, Tonhöhenabweichung bei Langvokalen in Einsilbern: schti:f steif ./. schti:.if Steife = Wäschestärke) und der Vertauschung der Langvokalreihen (weh statt wih (weh), Breef statt Brief (Brief), Föt statt Füt (Füße), Fot statt Fut (Fuß)), wie sie für die rheinischen Dialekte charakteristisch ist. Ebenso scheidet sich das Waddische vom Westdeutschen, da hier keine hochdeutsche Diphthongierung auslautender Langvokale stattfindet: bie /bi:/ statt bei /bei/.

Vom Westfälischen scheidet es sich durch die fehlenden Vokalbrechungen (Diphthonge: grot statt graut (groß)) und teilweise verschobene Konsonanten: Desch statt Disk (Tisch), aber seggen (sagen) mit stimmlosen Anlaut [s]. Vom Niederfränkischen bzw. Nordrheinmaasländischen unterscheidet es sich durch die mit dem Westfälischen gemeine offene Qualität der Vokale (westgermanisch ê/eo, ô: deep statt diep (tief), Koken statt Kuuk (Kuchen)), fehlende Umlautformen (Hus statt Hüs (Haus)), Dentalschwund nach inlautenden Kurzvokalen (hounert/hunnert statt hondert) und fehlende Differenzierung der Pluralformen (alle auf -en statt -en, -t, -en), die das Waddische strukturell mit dem Westfälischen teilt (alle auf -(e)t), jedoch seit dem 19. Jahrhundert mit hochdeutschen Endungen.

Tendenziell irgendwie Westfälisch?

Nach der vorliegenden Einteilung wäre ein Bezug zum Westfälischen naheliegend, genauer gesagt zu dem von Lameli nachgewiesenen Übergangsgebiet zwischen nördlichem (Westmünsterländisch) und südlichem Niederdeutsch (Westfälisch), würde dessen Begrenzung nach Süden nicht durch die westfälische Einheitsplurallinie definiert. Somit sind wir Stand heute an dem Punkt angelangt, dass der Sprachraum zwischen niederfränkischer Umlautlinie östlich von Moers, nördlich der Uerdinger Linie von Velbert bis Gummersbach und südlich der westfälischen Einheitsplurallinie von Bottrop bis Meinerzhagen im aktuellen Standardwerk gar nicht klassifiziert wird. Werden befindet sich damit im luftleeren Raum.

„Ostbergisch“ in eigenem Recht

Der neueste Aufsatz zum Spannungsverhältnis zwischen Rheinisch und Westfälisch in unserem Gebiet stammt aus dem Jahre 2021, erschienen im damaligen Sonderheft von „Alltag im Rheinland“. Markus Denkler (* 1973), heute Geschäftsführer der Kommission für Mundart- und Namensforschung Westfalens, greift einen älteren Ansatz der rheinischen Dialektologie auf. Dieser wurde erstmals 1937 von Ferdinand Wrede aufgestellt: Einen Übergangsstreifen gleichermaßen zwischen Niederrheinisch (Niederfränkisch), Ripuarisch und Westfälisch. Von Georg Cornelissen erhielt dieses Gebiet seinen Namen – Ostbergisch, weil am östlichen Rande des Bergischen Landes gelegen.

Denkler schreibt: „Die genannte Dialektregion lässt sich nämlich vermutlich nicht allein als östlicher Teil des Niederfränkischen oder des ‚Bergischen‘ auffassen, sondern in gewisser Weise auch als eine schlauchförmige Pufferzone zwischen dem Westfälischen (bzw. Südwestfälischen) und dem Rheinischen (bzw. Niederfränkischen und Ripuarischen). Es fällt auf, dass dieser ‚Schlauch‘ auf einer ganzen Reihe von Dialektkarten (beispielsweise im Deutschen Sprachatlas) zu erkennen ist, die oft zeigen, dass in diesem Gebiet eine Sprachform verwendet wird, die sich sowohl von der südwestlich davon gebrauchten (vereinfacht: rheinischen) als auch von der nordöstlich davon gebrauchten (westfälischen) Form unterscheidet.“

Ähnlichkeiten zum Münsterländer Platt

So ließen sich im Gegensatz zu den rheinischen Nachbarn sogar Ähnlichkeiten zum münsterländischen Dialektraum feststellen, der Teil des Westfälischen ist. Dabei kämen im Ostbergischen zahlreiche Kleinwörter vor, die in den benachbarten südwestfälischen Dialekten schon nicht mehr aufträten: So nich statt nit, net ‚nicht‘ – es statt as, als ‚als‘ – ek hew statt Südwestfälisch ik hewwe, Niederfränkisch ik hebb oder Ripuarisch ech han ‚ich habe‘. Es ergebe sich hier „eine kleine, aber gut fassbare Dialektregion mit eigenem sprachlichem Profil“. Sehr wohl gibt es auch innerhalb dieses Gebiets weiterhin interne Unterschiede von Ort zu Ort. Werden mit dem Waddischen erfüllt zahlreiche der definitorischen Kriterien, weicht aber in vielen Fällen dabei tendenziell zum Südwestfälischen ab: nech neben net nicht, as und ek hew.

WestfälischWerdenNiederfränkischRipuarisch
nichnet, nechnetnet
as, esasasals
ik hewweek hewik hebbech han

4. Wie viele Dialekte gibt es im Werdener Land?

Nicht nur großlandschaftlich birgt die Einteilung von Dialekten signifikante Herausforderungen, auch die sublokale Ebene ist mangels belastbarer Sprachdaten oft schwierig zu gliedern. Wie bereits geschildert, wurde die Binnenvariation auch im Werdener Land kaum untersucht. In unserer Annäherung konnten wir zwar das „Kern-Waddische“ bereits gegen die großen angrenzenden Dialektgebiete von Mülheim an der Ruhr, Velbert, Langenberg und Essen abgrenzen, doch die inneren Verhältnisse bislang nicht eindeutig klären.

Frei nach Richard David Precht: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ ist zwar der erste Teil eingehend behandelt, doch stellt der zweite vor offene Fragen. Doch gibt es einiges Material, das relevante Anhaltspunkte liefert. Hierbei sind die ältesten empirischen Daten gefragt, wie sie aus Georg Wenkers erster systematischen Befragung für den Sprachatlas der Rheinprovinz (1876 – 1878) hervorgingen. Zu dieser Zeit war der Status des Dialekts als wichtigste, meistgenutzte Umgangssprache noch ungebrochen. Standardsprachlicher Einfluss war zwar bereits vorhanden, doch ein allgemeiner Wechsel der Sprachschicht hatte noch nicht eingesetzt. Hierzulande war Waddisch Platt noch die Muttersprache der absoluten Bevölkerungsmehrheit.

24 kleine Sprachgebiete um Werden

Aus den 25 im Jahre 2009 (!) erstmals veröffentlichten Karten gehen 36 für das Werdener Gebiet relevante sprachliche Merkmale hervor. Wenn sich die einzelnen Grenzlinien überlagern, gehen daraus dialektale Kleinsträume hervor. Mithilfe dieser Methode lassen sich auch für Werden näherungsweise sublokale Areale ermitteln, die die sprachliche Variation im Werdener Land des späten 19. Jahrhunderts abbilden. An der Zahl ergeben sich hier 24 Areale, die sich einzelnen Siedlungsgebieten zuordnen lassen. Wählt man die für Werden-Stadt angegebenen Merkmale als Referenzwerte, zeigt sich anhand der Abweichungen auch der sprachliche Abstand zum „Kern-Waddischen“.

Die auf diese Weise ermittelten Areale, sortiert nach abnehmender sprachlicher Übereinstimmung mit dem Referenzgebiet Werden-Stadt, lauten wie folgt.

SiedlungsgebietAnteil in Prozent
Werden-Stadt100 %
Rüttelskamp97 %
Heidhausen (Unterheidhausen)97 %
Strathausen (Oberheidhausen)97 %
Hespertal94 %
Rodberg94 %
Bredeney92 %
Pastoratsberg92 %
Hamm92 %
Unterbredeney86 %
Fischlaken mit Scheppen81 %
Baldeney81 %
Aue (Mitzwinkel, Staadt)81 %
Heisingen78 %
Kupferdreh78 %
Scheven72 %
Holsterhausen (Ruhrlandklinik, In der Borbeck)69 %
Oefte61 %
Kettwiger Umstand58 %
Kettwig-Stadt56 %
Schuir53 %
Ickten50 %
Kleinumstand47 %
Roßkothen42 %

Älteste Daten noch am genauesten

Als Datengrundlage dienten die verschiedenen dialektalen Variablen für „Ohren“, „rot“, „bei“, „finden“, „Band“, „Hund“, „Winter“, „rote“, „Kleider“, „alte“, „erste“, „durch“, „gern“, „geh“, „stehen“ (Plural), „schlage“, „gehst“, „tu“, „habt“, „habe“, „haben“ (Plural), „sind“ (1. Person Plural), „seid“, „sind“ (3. Person Plural), „bin“, „bist“, „ist“, „mein“, „ihm/ihn“, „ihr“, „ihnen“, „ihr“ (Plural), „euch“, „euer“, „wir“, „ich“, „mir/mich“, „dir/dich“, „sich“, „Köpfe“, „Seife“, „Lehre“, „machen“, „zwei“, und „laufen“. Diese wurden anhand der Kartierung den jeweiligen Siedlungsgebieten zugeordnet. Legt man nun eine Übereinstimmung von mindestens 80 Prozent der untersuchten Merkmale zugrunde, entspricht das Gebiet größtenteils mit den von Franz Koch (1879) gemachten Angaben, welcher Bereich noch zum Werdener Dialekt zählen soll. Allerdings zeigt sich auch, dass dieser von Ort zu Ort tatsächlich immer ein wenig unterschiedlicher wurde.

Wenker konnte sich für das Werdener Land auf die Fragebögen von Werden-Stadt, Heidhausen, Kettwig-Stadt, Haarzopf, Heisingen, Byfang und Rottberg stützen. Für seine Grenzziehungen bezog er sich zudem auf topographische und orohydrographische Merkmale, also landschaftliche Charakteristika des Laufs von Gebirgen und Gewässern. Anhand der zahlreichen handschriftlichen Anmerkungen auf den Karten geht zudem hervor, dass er die Daten der Fragebögen auch mit erheblichem eigenem Wissen um die örtlichen Verhältnisse ergänzen konnte. So lässt sich aus den ältesten Daten zum Waddischen wohl noch am genauesten ablesen, wie es um die sprachliche Situation in den einzelnen Honnschaften einst bestellt war.

Marc Real

Dieser Artikel ist mit geringeren Abweichungen erstmals als elfteilige Serie in den Werdener Nachrichten erschienen (21. März, 28. März, 5. April, 12. April, 19. April, 26. April, 3. Mai, 10. Mai, 17. Mai, 24. Mai, 30. August 2024) . Fußnoten, Anmerkungen und Literatur werden sukzessive ergänzt.


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